Prolog zur deutschen Ausgabe von Andes Gótica
- Consultorías Stanley
- 7. Dez.
- 2 Min. Lesezeit
Wir leben in einer angeblich säkularen Welt. Und doch hört man immer wieder von der geheimen Allianz zwischen Politik und Magie: von Ministern, die sich von Kartenlegerinnen beraten lassen; von Präsidenten, die Astrologen konsultieren; von mächtigen Unternehmern, die den Rat von Medien, Heilerinnen und spirituellen Sehern suchen. Hinter den Fassaden moderner Rationalität wirkt ein uraltes Prinzip weiter: Macht sucht immer Verbündete in den unsichtbaren Kräften, und keine Herrschaft kommt ohne Rituale aus.
Andes Gótica macht diese verborgene Wahrheit sichtbar, indem der Roman sie aus dem 19. Jahrhundert ausgräbt—aus jenem Jahrhundert, das gern als Epoche des Fortschritts dargestellt wird, aber ebenso von Omen, Prophezeiungen, Beschwörungen und abergläubischen Politiken geprägt war. Der Roman zeigt, dass Gesellschaften nie allein durch Gesetze, Armeen oder wirtschaftliche Interessen regiert wurden, sondern auch durch Mythen, Ängste und geheime Liturgien, die das Denken und Handeln ihrer Eliten formten. Was wir heute als „Intuition“, „Instinkt“ oder „Strategie“ bezeichnen, war damals das Wirken von Geistern, Dämonen oder Heiligen. Die Moderne hat diese Kräfte nicht vertrieben—sie hat ihnen nur neue Namen gegeben.
Im Santander des 19. Jahrhunderts, dem Schauplatz dieses Romans, überlagern sich diese Welten mit erschreckender Klarheit. Europäische Ingenieure, kreolische Grundbesitzer, indigene Krieger, Priester, Rebellen und Wanderprediger lebten in einer Ordnung, die ebenso sehr von Geografie und Gewalt geprägt war wie von Visionen, Zeichen und spirituellen Interventionen. Der unheimliche Baron Genipperteinga, die Stimmen der Schluchten, die unergründlichen Rituale der Berge und die metaphysischen Schatten, die die Figuren verfolgen, sind keine bloßen literarischen Ausschmückungen. Sie sind das Echo jener unsichtbaren Architektur der Macht, die jede Gesellschaft—auch die unsere—unter ihrer Oberfläche trägt.
Denn das eigentlich Verstörende ist nicht, dass die Welt von damals von solchen Kräften beherrscht wurde. Verstörend ist, dass wir uns selbst darin erkennen. Auch unsere Gegenwart wird von Mächten gelenkt, die anonym, fern und beinahe sakral erscheinen: internationalen Konzernen, künstlichen Intelligenzen, globalen Märkten, supranationalen Bündnissen. Entscheidungen, die das Leben von Millionen verändern, werden oft in Räumen getroffen, die niemand sieht, von Akteuren, deren Stimmen wir nur wie entfernte Rufe hören. Die Menschen des 19. Jahrhunderts nannten solche Mächte Götter, Dämonen oder Schicksal. Wir nennen sie Systeme.
Darum gilt: Andes Gótica handelt nicht nur von einer untergegangenen Welt—es handelt von uns.
Wir sind Galeano, der die unsichtbaren Strukturen spürt, die durch uns hindurchregieren.
Wir sind Macaregua, der sich weigert, anonymen Kräften zu gehorchen.
Wir sind María del Carmen, die versucht, Ordnung in ein System zu bringen, das sie übersteigt.
Der Roman zeigt, wie nahe politische Realität und metaphysische Erfahrung beieinanderliegen, und dass der Mensch, unabhängig von Epoche oder Kultur, immer im Kampf mit jenen phantomhafte Mächten steht, die seine Existenz bestimmen. Andes Gótica erzählt diesen Kampf—und macht ihn für den Leser spürbar.

Möge diese deutsche Ausgabe den Leserinnen und Lesern nicht nur die Geschichte einer Region eröffnen, sondern auch jene tiefere Wahrheit, die in jedem von uns wirkt: dass der Glaube an sichtbare Ordnung immer begleitet wird von der Angst vor den unsichtbaren Händen, die sie lenken.
Hugo Noël Santander
Sincelejo, 2025











Kommentare